Der Tag, der für uns zum Albtraum werden wird, beginnt friedlich in der Luxuswelt des Châteaus. Da wir erst um 12 Uhr auschecken müssen, stehen Olaf und ich relativ spät auf, genießen das Frühstück und packen dann in aller Ruhe unsere Sachen zusammen. Ich versuche, meine Habseligkeiten im Koffer schon so zu schichten, dass ich leicht an die Kleidung komme, die ich für den letzten Abend in San Francisco und für den nächsten Reisetag brauche. Morgen steht nämlich unser Flug nach Tahiti auf dem Programm, wo wir eine Nacht bleiben und dann nach Bora Bora weiterfliegen werden. Unser Zeit in den USA neigt sich also dem Ende zu. Mittlerweile freuen mein Mann und ich uns richtig auf die Wärme Französisch-Polynesiens und auf das sicherlich entspannte Inselleben.
Mittags verabschieden wir uns vom Holunderschlösschen samt seinen wunderbaren Angestellten und treten die dreieinhalbstündige Rückreise nach San Francisco an. Zunächst fährt Olaf, dann übernehme ich nach einer Stunde das Steuer. Eigentlich habe ich vor, meinem Mann das letzte Stück durch den wuseligen Verkehr San Franciscos aufzuhalsen, aber dann bin ich so in Schwung, dass ich mir denke: „Heute wage ich mich in den Großstadtdschungel hinein!“ Tapfer kämpfe ich mich also über sechsspurige Highways, schaffe es sogar, während des Fahrens auf der oberen Etage der Bay Bridge den tollen Ausblick auf die Skyline San Franciscos zu genießen, schlängele mich durch den dichten Verkehr im Finanzdistrikt, kurve die Hügel der Stadt hinauf und hinunter und bewältige das extrem steile Stück der Filbert Street (das ich vor ein paar Tagen fotografiert habe) mit Leichtigkeit. Mein leicht angespannter Mann überwacht vom Beifahrersitz aus mit Argusaugen, dass ich niemanden überfahre, keine anderen Autos ramme und auch sonstige Stunts sein lasse.
Da es am späteren Nachmittag wieder regnen soll, möchte ich das einigermaßen trockene Wetter ausnutzen und zu Marshall’s Beach hinunterspazieren, um von dort aus eine schönen Perspektive auf die Golden Gate Bridge zu haben. Aus diesem Grund fahre ich zunächst nicht zur „Lodge at the Presidio“, wo wieder ein Zimmer für uns reserviert ist, sondern direkt zum Parkplatz Langdon Court am Golden Gate Overlook. Eine Entscheidung, die ich gleich bitter bereuen werde...
Wir steigen aus und ich rege an, dass wir meinen Rucksack und Olafs Tasche nach hinten in den Kofferraum stellen, damit sie nicht ganz so sichtbar im Wagen herumliegen. Gesagt, getan. Wir spazieren die paar Meter zum Aussichtspunkt vor und gehen dann in Richtung des Trails weiter. Olaf beschließt plötzlich, bei dem kühlen Wind nicht zum Strand mitzukommen, sondern im Auto auf mich zu warten. Er kehrt also um, während ich dem Pfad weiter folge.
Ich bin gerade dabei, mit dem Handy ein paar Fotos von den Holzstufen zu machen, die zum Meer hinunterführen, als Olafs Name auf dem Display aufleuchtet. Etwas verwundert nehme ich den Anruf an. Mein Mann schreit aufgeregt ins Telefon. Mein erster Gedanke: Er ist gestürzt und hat sich verletzt. Dann verstehe ich zumindest einen Teil von dem, was er ruft: Diebe - Auto - unsere Sachen - alles weg!!! Dann legt er auf. Wie ein Eissplitter dringt die Erkenntnis in mein Gehirn ein: Olaf wurde überfallen. Sie haben unser Auto geklaut. Alles weg. Meiner Kehle entfährt ein Stöhnen, ich drehe sofort um und haste voller Entsetzen zum Parkplatz zurück. Dort sehe ich Olaf stehen, der zum Glück unverletzt wirkt. Dann erkenne ich unser Mietauto neben ihm und bin kurz verwirrt - bis die Heckscheibe in mein Blickfeld gerät. Sie wurde eingeschlagen, ein Rahmen aus Scherben umgibt die Öffnung. Ich bin im Moment zu schockiert für Tränen und zwinge mich, einigermaßen ruhig zu bleiben. Zunächst lasse ich mir von Olaf die Ereignisse der letzten Minuten berichten.
Folgendes passiert, während ich auf den Trail unterwegs bin: Als mein Mann sich dem Parkplatz nähert, sieht er zwei mit Kapuzenpullis bekleidete Männer an der Rückseite unseres Wagens herumhantieren. Olaf macht sich bemerkbar und schreit „Hey!“ Währenddessen schlagen die Typen gerade die Scheibe ein und ziehen Rucksack und seine Tasche aus der zerstörten Heckscheibe. Olaf rennt auf die beiden zu, der eine Typ schreit „Go, go, go!“, treibt den anderen zur Eile an. Mit unseren Sachen im Schlepptau sprinten sie zu einem Honda Civic und springen hinein. Offensichtlich sitzt ein Komplize am Steuer, denn sofort fährt das Auto los. Mit unserem Hab und Gut.
Beide Pässe. Die iPads. Mein Schmuck. Meine Kreditkarten. Mein Geld. Mein internationaler Führerschein. Die Hausschlüssel. Zwei Bose-Kopfhörer. Olafs iPods. Meine Sonnenbrillen. Zwei Uhren. Fast die gesamte Reiseapotheke. Das Chinavisum. Unsere Tauchlizenzen. Brittas Schutzengel. Dazu noch weniger wichtige Dinge wie Ladekabel, Zusatzakkus, mein Schminktäschchen, Hygieneartikel... Das alles ist weg. Unfassbar. In meinem Kopf rattert es: Was machen wir jetzt? Was ist zu tun? Erst einmal 911 anrufen. Meine Kreditkarten sperren lassen. Olaf übernimmt den Anruf bei der Polizei, während ich mit meiner Bank telefoniere. Zum Glück ist dort jemand 24 Stunden am Tag erreichbar.
Es dauert nicht lange, bis eine Polizeistreife in den Parkplatz einbiegt und sich eine junge Polizistin namens Rodriguez um uns kümmert. Sie protokolliert den Tathergang und notiert sich die gestohlenen Gegenstände, befragt meinen Mann zum Aussehen der Täter und des Fluchtfahrzeugs, aber da alles so schnell gegangen ist, bleibt Olafs Beschreibung sehr vage. Die Polizistin leiht mir einen Plastikbesen, damit ich die lockeren Scherben aus dem Rahmen lösen und das Glas aus dem Kofferraum fegen kann. Währenddessen erzählt Rodriguez von einer Gesetzesänderung in Kalifornien: Autoeinbrüche und andere Delikte wie Ladendiebstahl werden seit dem Jahr 2014 nicht mehr als „felony“ (Verbrechen), sondern nur noch als „misdemeanor“ (Ordnungswidrigkeit oder minderes Delikt) eingestuft und normalerweise mit einer Geldstrafe geahndet. Seitdem beobachtet Rodriguez einen starken Anstieg derartiger Taten in San Francisco. Banden haben sich darauf spezialisiert, Autos auszuplündern. Bevor die Polizistin von dannen zieht, will sie uns mit der Info aufmuntern, dass bisweilen ein Teil der gestohlenen Sachen irgendwo wieder auftaucht. Ein schwacher Trost. Außerdem rät sie uns, wegen der entwendeten Pässe das deutsche Konsulat zu kontaktieren.
Es ist vollkommen klar, dass unser Reiseplan nicht eingehalten werden kann - ohne Papiere sind wir morgen nicht in der Lage, nach Tahiti fliegen. Und wer weiß, wann wir einen Ersatz erhalten?! Die deutsche Bürokratie steht ja nicht gerade für schnelle Prozesse und ausgeprägte Hilfsbereitschaft...
Wir verlassen den Ort des Geschehens und fahren mit dem beschädigten Wagen zur „Lodge at the Presidio“, um unsere verbleibenden beiden Koffer in Sicherheit zu bringen. Zum Glück können die Rezeptionisten unseren Aufenthalt im Hotel problemlos um ein paar Tage verlängern. Als mein Mann und ich auf dem Zimmer ankommen, umarmen wir uns erst einmal und bei mir fließen jetzt die Tränen. Langsam dringt zu mir vor, was da gerade passiert ist. Und was hätte geschehen können - wäre Olaf schneller beim Wagen gewesen, hätten die Verbrecher (und das sind sie, Gesetzesänderung hin oder her) ihn womöglich noch verletzt! Darüber hinaus fallen mir immer mehr Dinge ein, die sich in dem gestohlenen Rucksack befanden. Am meisten schmerzt mich der Verlust einiger Schmuckstücke - nicht, weil sie sonderlich teuer gewesen wären, sondern weil ich sie einfach sehr gern getragen habe und Erinnerungen damit verbinde. Schmuck, den mein Mann, meine Eltern und meine Schwester mir im Lauf der Jahre geschenkt haben... Dazu Mitbringsel von meinen Reisen: Ohrringe aus Marokko, Ketten aus Südafrika und Kreta.
Mir bleibt jedoch nicht lange Zeit, um den Verlust zu betrauern, denn wir müssen noch den beschädigten Mietwagen loswerden, bevor Avis die Tore verriegelt. Mit offener Heckscheibe rasen wir durch die Stadt und schaffen es tatsächlich, den Toyota fünf Minuten vor Schließung der Filiale abzugeben. Ein Problem weniger.
Anschließend lassen wir uns von einem Über-Fahrer zum Apple-Store bringen, wo Olaf gleich neue iPads und diverses Zubehör erwirbt. Nebenan bei „Walgreens“ kaufe ich Ersatz für die gestohlenen Hygieneartikel. Wir zwingen uns zur schrittweisen Rückkehr in die Normalität und essen deshalb wieder im „Commissary“, also ebenjenem Restaurant, in dem wir gut gelaunt unser erstes Abendessen in San Francisco genossen hatten. Dieses Mal sitzen wir in deutlich gedrückterer Stimmung am Küchentresen - daran können weder die schmackhaften Speisen noch der leckere violette Gin &Tonic-Drink oder der freundliche deutsche Koch etwas ändern.
Zurück auf dem Zimmer bringt Olaf uns wieder ein Stückchen weiter in Richtung Normalität, indem er die Backups auf die neuen iPads aufspielt. Da mein Mann sich vor Monaten rechtzeitig um die Sicherung unserer Daten in der iCloud gekümmert hat, ist nichts davon verloren gegangen. Sämtliche Dokumente, Fotos, Apps... alles liegt 1:1 vor. Ein sehr gutes Gefühl! Zudem haben wir die Gewissheit, dass mit unseren gestohlenen iPads nichts weiter anzufangen ist, weil die Aktivierungssperre eingeschaltet war. Jetzt taugen die Dinger höchstens noch als Küchenbrett. Nichtsdestotrotz wird mir fast schlecht bei dem Gedanken daran, wie die Diebe unsere Sachen durchwühlen und verhökern... Nicht sehr christlich wünsche ich ihnen sämtliche Geschlechtskrankheiten an den Hals, die mir gerade einfallen!
Wir informieren natürlich auch noch unsere Weltreiseagentur über den Diebstahl. Die Inhaber Frau Kuhn und Herr Materna kümmern sich gleich im Anschluss um die Änderung der Flüge und Hotelaufenthalte und teilen uns in mehreren Telefonaten die Ergebnisse ihrer Recherchen bezüglich nächster Schritte und möglicher Implikationen mit. Wir erfahren beispielsweise, dass wir unsere Chinareise ohne neues, von uns in Deutschland persönlich beantragtes Visum nicht wie geplant durchziehen können. Da eine vorübergehende Rückkehr nach Deutschland für uns nicht in Frage kommt, müssen wir wohl die Dauer des Aufenthalts in China auf maximal fünf Tage eindampfen und dürfen während dieser Zeit auch nicht im Land herumreisen. Das bedeutet konkret: Die gebuchte mehrtägige Kreuzfahrt auf dem Jangtsekiang ist gestrichen. Doch über derartige Probleme zerbrechen wir uns lieber ein andermal den Kopf. Gleich morgen früh steht erst einmal der wichtige Gang zum deutschen Konsulat an.
Olaf und ich kriechen irgendwann ins Bett. Der Kopf schmerzt dumpf, wir sind ausgelaugt und todmüde, haben aber Probleme mit dem Einschlafen... Welche Erkenntnisse wird der morgige Tag wohl bringen?